Den 18.3.1937
Herrn Stijn Streuvels
Ingoyghem
bei Kortrijk
Hochverehrter Herr Streuvels!
Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren Brief vom 14. März und Ihr Einverständnis wegen der
Weihnachtsgeschichten und wegen "
Weltliteratur", sowie ganz besonders auch für die liebenswürdige Dedikation an Herrn
Wengenroth, der uns ganz beglückt darüber geschrieben hat.
[1]
Ich habe mittlerweile die Lektüre des "Teleurgang" beendet; es ist ein wirklich ganz großartiges Werk, machtvoll in seinem unerbittlichen Gang. Die Schilderung der Charaktere und der Landschaft ist gleich stark. Der Kampf der beiden Welten miteinander ist vollkommen überzeugend durchgeführt. Ich bewundere immer von neuem, daß die Menschen bei Ihnen niemals den literarischen "Bruch" in sich tragen, den man sonst so häufig bei anderen Schriftstellern findet: sie sind logisch durchkonstruiert wie die Gestalten von Shakespeare.
Darf ich Sie nur auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen, die sich vielleicht durch einen Satz deutlicher machen ließe? Sie lassen ja am Schluß das spätere Schicksal von Moritz und Mira offen, und damit ist eigentlich von vornherein gesagt, daß die Tragödie Moritz-Mira nie enden wird, solange diese beiden Menschen sich nicht endgültig trennen, [2]denn ein Mensch wie Mira ändert sich ja nicht, und bei Moritz kann ich noch nicht entscheiden, ob bei ihm die seelische Konstitution und die Erbmasse seiner Vorfahren kräftig genug ist, um sich auf die Dauer neben Mira zu behaupten. Hierin liegt an und für sich etwas Unbefriedigendes, und ich möchte anheimgeben, ob es nicht richtiger wäre, am Schluß einen vollständigen endgültigen Bruch zwischen Moritz und Mira eintreten zu lassen, wobei jeder in das Lebenselement zurückkehrt, für das er geboren ist. Moritz wird ja durch das Liebeserlebnis verwandelt, Mira aber nicht, denn sie ist die Stärkere.
Wollen Sie es aber bei der jetzigen Lösung belassen, so sollte vielleicht noch etwas deutlicher herauskommen, daß Moritz tatsächlich die ihm angebotene Stelle im Kongo annimmt und daß Mira tatsächlich zu seiner Mutter fährt.
Hier ist nämlich die einzige Unwahrscheinlichkeit: Die Mutter hat sich schroff gegen ihren Sohn gestellt, und man kann sich darnach ein auch nur probeweises Zusammenleben zwischen der Mutter und Mira beim besten Willen nicht vorstellen. Man kann sich überhaupt nicht denken, daß eine der beiden Frauen auf diesen Versuch auch nur eingeht. Und sollte dies doch der Fall sein, dann wäre es ja höchstens denkbar, daß die Mutter sich aus Liebe zu Ihrem Sohn dazu versteht, während Mira hofft, auf diese Weise in die Welt der Großstadt zu kommen, dass sie dies also nur als Übergang und Sprungbrett zu neuen Zielen betrachten würde. Aber diese Lösung ist doch recht schmerzlich und kein eigentlicher Abschluß.
[2]
Bitte betrachten Sie das nicht als Nörgelei, sondern nur als ein offenes Wort über den Eindruck, den ich selber habe. Die Entscheidung liegt selbstverständlich vollkommen bei dem Dichter.
[3]
Bleibt noch die Frage des
Titels: Wörtlich übersetzt lautet der Titel: "
Der Untergang des Wasserviertels", aber ich habe sehr starke verlegerische Bedenken gegen diesen Titel, denn ich glaube nicht, daß er sehr stark zum Kaufen anreizt. Ich würde vorschlagen, statt dessen zu sagen: "
Die große Brücke". Die Brücke ist ja doch im Grunde genommen der Held des Buches, die Triebkraft und der Anlaß zu allen Verwicklungen, die Ursache aller Folgen in diesem Buche, also in jedem Betracht die Hauptperson. Der Untergang des Wasserviertels ist
eine dieser Folgen. Dieser Titel („
Der Untergang des W[asserviertels]”) gäbe deswegen nur einen Teilausschnitt. Das Schicksal Moritz-Mira wird dadurch zur Nebensache. Der Titel "
Die große Brücke" dagegen klingt gut, läßt vieles ahnen und ist logisch richtig. Ich würde mich über Ihre Zustimmung freuen.
[3]
Schließlich die Übersetzung: Vom deutschen Standpunkt aus gesehen ist sie im allgemeinen ganz ausgezeichnet. Nur die Verdeutschung der Lieder ist etwas steif und langweilig, und hierauf muß ich Herrn Jacobs noch aufmerksam machen. Ich bin nun sehr gespannt, ob auch Sie Ihrerseits zufrieden sein können.
Bei dieser Gelegenheit: Frau
Valeton hat Ihnen ja vorgeschlagen, bei "
Martje" das Wort "misdadige" mit "verrucht" zu übersetzen, und ich habe das auch befürwortet.
[4] Die Bedeutung von "verrucht" und "verbrecherisch" ist im heutigen Sprachgebrauch in Deutschland kaum verschieden, also praktisch beinahe die gleiche. Das Wort "verrucht" aber "klingt" etwas besser und ist auch um zwei Silben kürzer. Auch liegt darin
[4]noch ein leichter Klang von Abenteuerlichkeit und Romantik, der gerade dieser Erzählung wohl anstehen würde, während das Wort "verbrecherisch" im Deutschen ausgesprochen kriminell klingt und daher bei einem Titel zu einem dichterischen Werk fast zu nüchtern, sachlich und auch etwas abschreckend klingt. Ich wäre also dankbar, wenn Sie auch hier dem Vorschlag von Frau
Valeton, der mir recht gut erscheint, zustimmen würden.
[5]
An Herrn Ghatberg habe ich Ihre ausführlichen Titelangaben weitergeleitet. Er wird Ihnen dafür sicherlich sehr dankbar sein.
Mit verehrungsvollen Grüßen
Ihr
(handtekening Adolf Spemann)